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CEAN

Text: Alexandra Looser

 

Wer sich der hinterlassenen Spur in “CEAN” hingibt, die entlang den gewundenen Linien Schwung aufnimmt, sich mal mit einem wolkigen Körper, mal spindeldürr aus poliertem Holz präsentiert, der endet unweigerlich dort, wo alles seinen Anfang genommen hat. Bei der Frage nach der Darstellbarkeit einer kaum greifbaren Kraft, die eine Lust am kreativen Schaffen bannt.

Christian Neuenschwanders künstlerische Herangehensweise ist daher am ehesten mit dem Begriff der Intuition zu fassen. Sie markiert einen Schlüsselmoment 2017, als er den Tuschpinsel auf ein leeres Papier setzte und die Hand ohne konkreten Plan über die weisse Oberfläche gleiten liess. Wo die Intuition den Pinsel führt, könnte das eine Möglichkeit sein, das Unbewusste ans Werk zu lassen. Die Intuition wäre somit das Tor, durch das dieses Ungreifbare sichtbar wird: Erst als eine organische serpentine Linie, die sich nun, vier Jahre später, variantenreich durch die verschiedenen Exponate auslebt. Als Abbilder dieser impulsiven Tuschzeichnung bilden sie die Antithese zu Neuenschwanders beruflichem Werdegang als Grafiker 1. Wo dort Ideen erst nach langen Überlegungen formuliert werden, entstehen die künstlerischen Werke ohne Gedankengerüst. 

 

Warum aber sehen wir dann einen virtuellen Raum voller Vögel?

 

Der generischen Serpentina auferlegte Neuenschwander die spielerische Frage, was an einem gestalterischen Minimum notwendig wäre, um der Linie eine Identität zu verleihen. Die Antwort waren ein Punkt und eine kleine spitzige Entgleisung während der Pinselführung. Der Eingriff verabreichte dem Organischen ein Äusseres, das der:ie Betrachtende sofort als Vogelgestalt zu interpretieren versteht – obwohl den Zeichnungen wie auch den dreibeinigen Skulpturen natürlich jegliche realen Entsprechungen fehlen. Als kollektiver Bezugspunkt zieht sich dieser simple Eingriff durch die Figuren. Ist geformt aus Beton, Holz, Stein, Graphit, Filzstift, Tinte und fügt sich in den Spannungen und Windungen der Bögen, im dynamischen ausfransenden Duktus der Tuschzeichnung, in den schraffierten Gemälden wie auch in den Skulpturen zu einem Universum zusammen, das eine neoromantische Sehnsucht nach Einheit und Ursprünglichkeit vermuten lässt. Nicht zufällig nennt Neuenschwander die dreibeinigen Skulpturen “Tripsareus“ – als ob sich in ihnen eine prähistorische Urform ausdrücken würde, die er in den Erlebnishorizont unseres überdmedialisierten Zeitalters zurückführen möchte 2

 

Diese Urtümlichkeit der einfachen Form wird jedoch getrübt durch eine Doppelspur, die in den Werken ebenso angelegt ist: Das Flächige von Henri Matisse, die kanonisierten One Line Zeichnungen von Pablo Picasso, die polierten Reduktionen von Constantin Brâncuși, wie sie in L’oiseau dans l’espace weltbekannt sind, und die biomorphe Formensprache von Hans Arp schwingen unverkennbar in den Arbeiten mit. “La simplicité c’est la complexité résolue”, äusserte sich Brâncuși über den abstrahierenden und reduzierenden Prozess der Moderne 3. Dabei ist in Neuenschwanders reproduzierten Formen aber genau so viel Nägeli Ästhetik vorhanden, wie in der Fülle der vogelähnlichen Wesen Marcel Broodthaers’ Adlerkabinett durchschimmert.

Der getuschte Körper, die hölzernen Rundungen und betonenen Füsse sind denn auch nicht das Ende einer langjährigen Reflexion über künstlerisches Schaffen, in der die Reduktion und Abstraktion als die Kernwesen der Kunst auch im Sinne einer avantgardistischen l’art pour l’art fungieren 4. Eher sind die formalen und materiellen Variationen fragmentarische Abbildungen wie auch Weiterentwicklungen dieser ersten intuitiven Linie. In diesem Sinne haben wir es weder mit postmodernistischer Appropriierung, Recycling noch Archivierung zu tun. 


Vielmehr steht die Möglichkeit im Vordergrund, aus den vermeintlichen Vogelwesen einen Grundstock zu bilden, aus dem sich ein ganz eigenes Universum erbauen liesse: Wie der erste fallende Dominostein eine Reaktionskette auslöst, so stiess die 2017 gewundene Form eine Zellteilung an, die untrennbar und undistanzierbar mit “CEAN” verknüpft ist 5. Aus der intuitiven Spur wurden zwei, dann vier, dann sechzehn Abbildungen… sie verändern ihre Dimension, ihre Materialität, haben drei oder gar keine Beine. Infektiös greift diese Spur um sich und etabliert in der Vervielfältigung ihre ganz eigene Realität 6. Wobei die Fülle an formverwandten Arbeiten nicht deren Bedeutungslosigkeit ausstellt. Dafür sind sie allegorisch zu distanziert und das Vogelähnliche der Werke ganz und gar sekundär – wissen wir doch alle, dass das hier keine Vögel sind, sondern Fantasien und Mutationen der Intuition.

1_Die Tuschzeichnungen gefertigt aus einer Linie erinnern formal an die Technik der Kalligraphie. Mit ihr arbeitete Christian Neuenschwander erstmals für ein Projekt, das er für das Restaurant SHIN in Zürich grafisch mitbetreute.

 

2_Auf Christian Neuenschwanders Instagramkanal ist eine dieser urtümlichen Gestalten als ein mikroskopischer Organismus dargestellt: https://www.instagram.com/p/B9XMWN9gIkK/.

 

3_Constantin Brâncuși, zit. in: Friedrich Teja Bach, 1987: Constantin Brancusi. Metamorphosen Plastischer Form. Köln, S.16.

 

4_Die Suche nach Ursprünglichkeit, Einfachheit und einer universellen Form war gerade auch in der Moderne durch den sogenannten Primitivismus in der Kunst ein verbreitetes, nicht unproblematisches Anliegen, das im Zuge des kolonialistischen Diskurses bekanntlich für Leid, Klassizismus und Determinismus gesorgt hat, was bis heute ihre Wirksamkeit zeigt. Was 2021 von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unterscheidet, ist das Wissen darum, dass allgemeingültige Aussagen kaum möglich sind.

 

5_CEAN ist ein Akronym aus Christian Eduard Asuncion Neuenschwander: Dem Vor- und Zweitnamen des Künstlers und der Familiennamen seiner Eltern.

 

6_Eine Spur, der man auch im Wald in Gockhausen begegnet, wenn man aufmerksam die gelben Markierungen an den Baumstämmen betrachtet.

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